Bei den Grossratswahlen vom kommenden Sonntag wird die Wahlbeteiligung niemals so hoch sein wie 1923, als Basel-Stadt den Rekord von 85,3 Prozent verbuchte. Die guten alten Zeiten? Das Ganze hat eine Kehrseite: Die gesellschaftliche Stimmung war damals äusserst gehässig, der Klassenkampf zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum befand sich auf dem Siedepunkt. SP und Kommunisten – ihrerseits zerstritten – praktizierten ausserdem ein rigides System der Stimmkontrolle.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war eine Wahlbeteiligung von 60 bis 70 Prozent normal. Besonders hoch war sie in den 1920er und 1930er Jahren – in Zeiten wirtschaftlicher Krise, der sozialen Konflikte und der politischen Polarisierung. 1950 erreichte sie mit 74,4 Prozent nochmals eine Spitze; dann sank sie beinahe ungebremst. Daran änderte auch nichts, dass Regierung und Parlament ab den 1950er Jahren nur noch alle vier statt alle drei Jahre gewählt werden mussten. Auch die hinzukommenden Frauen brachten keine Trendwende, im Gegenteil. Den Tiefpunkt erreichte die Beteiligung an den Grossratswahlen 1980 und 2008 mit 39 Prozent. Seither nimmt sie wieder zu: 2016 betrug sie 41,7 Prozent und 2020 43,5 Prozent.
Kontrollkarten und «Schleppdienst»
Wie bringt man seine Anhänger an die Urne? Von einer Stimm- und Wahlpflicht wollten die Basler nie etwas wissen. Sie stimmten zweimal darüber ab (1904 und 1911) und sagten klar Nein. Die Linke entwickelte in den 1920er und 1930er Jahren jedoch ein anderes probates Mittel, nämlich eine ausgeklügelte Stimmkontrolle.
An Mitglieder und Sympathisanten wurden vor Wahlen und Abstimmungen jeweils Kontrollkarten verteilt. An den Abstimmungstagen waren vor den Abstimmungslokalen Vertrauensmänner postiert, denen die Kontrollkarte ausgefüllt abgegeben werden musste als Beweis, dass man seiner Pflicht nachgekommen ist. Idealerweise bereits am Samstag, damit sich möglichst viele am Sonntagmorgen am «Schleppdienst» beteiligen konnten, der auch noch die verschlafensten Stimmberechtigten aus dem Bett klopfte und an die Urne jagte.
Nach ihrer Spaltung (1920) organisierten sich SP und Kommunisten noch strammer, wenngleich nun getrennt. Die Quartiervereine mussten für ein gut ausgebautes System von Vertrauensmännern besorgt sein, die je für gewisse Strassen zuständig waren. Auch in den Betrieben wirkten Vertrauensleute.
«Gesinnungsterror»?
Das System war so erfolgreich, dass es die bürgerlichen Parteien kopierten, allerdings zeigten sie bald Ermüdungserscheinungen. So musste die bürgerliche Presse in den 1930er Jahren neidvoll feststellen, dass «durch den marxistischen Gesinnungsterror auch noch der letzte Mann ins Wahllokal gezerrt wird».
Die gezeigte Kontrollkarte befindet sich im Staatsarchiv Basel-Stadt, unter Räte und Beamte, A4.