Spät, dafür friedlich und umfassend
Basel-Stadt fand im schweizweiten Vergleich spät zur direkten Demokratie, als fünftletzter Kanton. Vor 1875 durften wenige tausend (männliche) Stimmberechtigte nur bei Wahlen und alle paar Jahre bei Verfassungsrevisionen ihre Stimme abgeben. Auf Gesetze, Ausgaben und weitere Sachfragen konnten sie keinen Einfluss nehmen. Basel-Stadt war eine rein repräsentative Demokratie.
Die aufstrebenden Freisinnigen, die als Interessenvertreter der zugezogenen Schweizer und der Arbeiterschaft agierten, verlangten immer stärker die Ablösung der konservativen Vorherrschaft, in der politische Ämter faktisch der vermögenden Elite – den Burckhardts, Merians, Sarasins, Christs oder Vischers – vorbehalten blieben. Zudem verlangten sie eine direkte Mitsprache der Bevölkerung. 1875 kam es zur Verfassungsrevision, die neben einer auf sieben Mitglieder verkleinerten Regierung, sieben Departementen sowie der Gewaltentrennung zwischen Regierung und Parlament auch die direkte Demokratie brachte. Beeinflussend wirkten andere Kantone (Zürich beispielsweise führte die direkte Demokratie 1869 ein) und darauffolgend die Entwicklungen auf Bundesebene: Im Vorjahr 1874 hatte auch der Bund mit dem Referendum das erste direktdemokratische Volksrecht eingeführt.
Die Einführung der direkten Demokratie war in Basel-Stadt vorab ein Projekt der freisinnigen Elite und ihrer Vereine, nicht der breiten Öffentlichkeit. Parteien gab es noch nicht: Die Arbeiterschaft war damals noch eng mit den Freisinnigen verbunden. Der Stadtkanton machte den Schritt zur direkten Demokratie zwar spät, dafür erfolgte er anders als in anderen Kantonen konfliktfrei.
In Basel-Stadt wurden ausserdem die als «Volksrechte» bezeichneten Instrumente Volksinitiative und Referendum gleichzeitig eingeführt; die meisten anderen Kantone führten sie in Etappen ein. Und die Basler Verfassungsgeber fassten den Kanal der Bevölkerung, um sich in Staatsgeschäfte einzumischen, breit. Von Beginn weg musste sich eine Volksinitiative nicht nur auf Verfassung und Gesetze beziehen, sondern konnte z.B. ein neues Schwimmbad fordern. Auch das fakultative Referendum konnte immer gegen Gesetze wie auch gegen weitere missliebige Grossratsbeschlüsse, z.B. neue Ausgaben oder Bebauungspläne, ergriffen werden. Für die Einreichung beider Instrumente waren 1000 Unterschriften nötig, was 1875 ca. 13% der Stimmberechtigten entsprach. Die Unterschriftenzahlen sind seither mehrmals angepasst worden. Die damals festgelegte Frist von 42 Tagen für das Referendum gilt noch heute.
Munteres Mitmachen der Bevölkerung
Nach 1875 galten für die Kantons- und Stadtentwicklung neue politische Vorzeichen. Schon im Jahr darauf bodigten die Stimmbürger mit dem ersten zustande gekommenen Referendum das Kanalisationsgesetz, welches den unzumutbaren hygienischen Verhältnissen in der Altstadt hätte ein Ende setzen sollen. Basel-Stadt erhielt – im wahrsten Sinne – einen Vorgeschmack, dass die Volksrechte fortschrittshemmend wirken können.
1877 reüssierte auch die erste Volksinitiative zum raschen Bau einer dritten Rheinbrücke. Hier wirkte das Instrument der Initiative beschleunigend, die Johanniterbrücke wurde rasch gebaut.
Bis heute haben die Basler – und seit 1966 endlich auch die Baslerinnen – rund 180 Initiativen und 300 Referenden an die Urne gebracht, mit einer Erfolgsquote von je gegen 40 Prozent. In den ersten Jahrzehnten dominierten Fragen der Stadtentwicklung und der Staatsordnung (z.B. Einführung der Proporzwahl). Ab den 1920er Jahren kamen sozialpolitische Forderungen hinzu. So gehen in Basel-Stadt die erste Altersrente und das erste Feriengesetz auf eine Volksinitiative zurück. Im Zuge von Modernisierung und Bevölkerungswachstum rückten schliesslich ab den 1960er Jahren Umweltthemen in den Vordergrund.
Impulsgeber und Schrittmacher
Die Basler Stimmberechtigten haben sich immer wieder als Impulsgeber und Schrittmacher erwiesen, indem sie etwa demokratischere Kräfteverhältnisse, den Ausbau des Sozialstaats, eine alternative Energiepolitik und insgesamt wieder mehr städtische Lebensqualität erzwangen: von der Umgestaltung der autogerechten zur verkehrsberuhigten Stadt, vom Schutz der Altstadt und dem Erhalt von Grünflächen bis zu geschütztem und bezahlbarem Wohnraum. In jüngster Zeit führte Basel-Stadt per Volksinitiative einen kantonalen Mindestlohn ein und gab sich das ehrgeizige Zieljahr 2037 zur Erreichung der Klimaneutralität. In beiden Fällen nahm die Stimmbevölkerung den Gegenvorschlag des Parlaments an.
Buntes Mosaik an Mitspielenden
Natürlich gingen die meisten Initiativen und Referenden von etablierten politischen Akteuren aus, von Parteien, Verbänden oder Vereinen. Auch sie haben Instrumente in die Hand erhalten, um bei Interessen, die sie im Parlament nicht durchsetzen konnten, mit der Hilfe des Volkes nachzudoppeln. Beide Instrumente wurden bis Mitte des 20. Jahrhunderts klar stärker – und erfolgreicher – von der bürgerlichen Seite genutzt. Zu einer ersten Häufung kam es in den stark polarisierten 1920er bis 1940er Jahren, die durch den Bruderzwist von SP und Kommunisten, 15 Jahre ‹rotes Basel›, die Wirtschaftskrise und den Zweiten Weltkrieg geprägt waren. In den 1980er und 1990er Jahren kam es zu einem markanten Wandel, als links-grüne Akteure die Volksrechte geradezu okkupierten. Unterdessen verteilt sich die Nutzung der Volksrechte in Basel-Stadt wieder breiter. Unter dem Strich lassen sich mehr Volksinitiativen dem rot-grünen Lager zuordnen, das Referendum etwas häufiger dem bürgerlichen Lager.
Nicht jede Urheberschaft passt aber ins Links-Rechts-Schema. In Basel-Stadt organisierte sich über die Zeit ein buntes Mosaik an Mitspielenden; vom Heimatschutz, Pflanzlandpächtern, Frauenverbänden, Impfgegnern und Taxihaltern bis zum Hundeverein, der Rheinanwohnerschaft oder den Trolleybus-Anhängern. Es gab weder permanente Gewinner noch permanente Verlierer, keine politische Seite konnte die direkte Demokratie für sich pachten.