Zum Inhalt springen

Neue Stimmbürger im Rückblick: Von den Ängsten bleibt wenig übrig

So alt wie die Demokratie ist der Ausschluss aus ihr. Im Rückblick bleibt von den Ängsten und Vorurteilen gegenüber neuen Stimmbürgern wenig übrig, Abwehrreflexe haben sich jeweils rasch gelegt. Das zeigen die drei grossen Schritte zur Ausweitung der Mitbestimmung in Basel: die Einführung der direkten Demokratie, das Frauenstimmrecht und das Stimmrechtsalter 18. Eine Erkenntnis, die im Hinblick auf die Abstimmung über das AusländerInnen-Stimmrecht vom 24. November nicht schaden kann.

Eine «chronische Apathie» für kantonale Politik stellte die konservative Presse im Jahr 1875 fest. Und auch im Grossen Rat wurde debattiert, ob die Bevölkerung überhaupt mehr Mitbestimmung wolle. Es ging um die Frage, ob Basel-Stadt als einer der letzten Kantone endlich auch die direkte Demokratie mit Volksinitiative und Referendum einführen soll. Ein Volk, das über Gesetze und Ausgaben abstimmen würde? Nein danke, soweit es nach der konservativen Oberschicht der Industriellen, Bankiers und Gelehrten ging. Das Volk sei, anders als das Parlament, nicht «in voller Kenntnis der Dinge», hiess es. Zudem zeige der Blick in andere Kantone, dass die Stimmbürger öfters fortschrittsfeindlich entscheiden würden.

Das Misstrauen in die Politikfähigkeit der normalen Leute verfing nicht. Basel-Stadt führte die direkte Demokratie ein und die Volksmitsprache ist seither nie grundsätzlich in Frage gestellt worden, bei allem Ärger über je nach Sichtweise «falsche» Abstimmungsentscheide.

Die Frauen: Für jedes Nein ein Freibier

Düstere Prophezeiung: Die vermännlichte Frau und Abstinenzpredigerin (deshalb das Wasserglas). Baselstädtisches Abstimmungsplakat von Otto Baumberger, 1920. Sozarch_F_Pe-1594

Verlief die Diskussion um die Einführung der direkten Demokratie noch gemässigt, so kam es in Basel 1920, bei der ersten Abstimmung über das Frauenstimmrecht, erstmals zu einer rabiaten Nein-Kampagne gegen mehr Mitbestimmung. Echte, wenngleich reichlich paternalistische Sorge um das Wohlergehen des Kantons wich nun unverblümter Absicherung der männlichen Vorherrschaft: «Ich sehe jetzt schon in vorausschauendem Geiste die Frau Regierungsrätin und Vorsteherin des Polizeidepartements mit strenger Miene auf dem Lohnhof ihres Amtes walten und an der Spitze des Polizeikorps durch die Stadt marschieren», orakelte ein liberaler Grossrat. Wahrlich vorausschauend. Angeführt von der rechtskonservativen Bürger- und Gewerbepartei, wurden Frauen von ihrem Intellekt wie auch ihrer Wesensart her als politikuntauglich disqualifiziert. Gewarnt wurde zudem vor der Zerrüttung der Familie und einem grösseren Einfluss der Kirchen, wenn Frau plötzlich Politik machen würde. Gar ein Alkoholverbot und eine strenge Polizeistunde in den Beizen rücke dann in greifbare Nähe. Angeblich schenkten die Wirte am Abstimmungstag für jedes Nein auf dem Stimmzettel ein Freibier aus.

Wie stark mit Ängsten gearbeitet wurde, zeigen die Abstimmungsplakate. Sie dienten nicht der Information, sondern der Emotionalisierung, indem die politisierende Frau als Mannsweib überzeichnet wurde. Zugute kam den Gegnern, dass auch viele Frauen verlauten liessen, sie wünschten das Stimmrecht nicht. Basel-Stadt ging diesbezüglich – nach dem dritten Nein der Männer – einen innovativen Weg: 1954 kam es zur Konsultativabstimmung. 76’701 Frauen durften sich äussern, ob sie das Stimm- und Wahlrecht wollten. Fast 60% nahmen teil und 73% warfen ein Ja in die Urne. Dass die Frauen ihr Interesse damit wie gefordert «bewiesen», nützte ihnen allerdings wenig. Im selben Jahr sagten die Basler Männer ein viertes Mal Nein.

Erst 1966, im fünften Anlauf und bei einer dürftigen Stimmbeteiligung von 35%, kam das Frauenstimmrecht endlich durch. Ein wichtiger Grund war die Zunahme berufstätiger Frauen. War in den Kriegsjahrzehnten davor die Hausfrau zelebriert worden, schmückten nun Assistenzärztinnen, Trambilletteusen und Buchhalterinnen die Abstimmungspropaganda. Zweifellos half auch, dass einige Jahre zuvor die Bürgergemeinden das Frauenstimmrecht eingeführt hatten, Riehen als erste der Schweiz. Die Männer konnten sich nun ein konkretes Bild machen, wie Frau abstimmte, wählte und als Politikerin auftrat. Anscheinend überzeugend, denn mehrere Bürgerrätinnen wurden 1968 auch als erste Grossrätinnen gewählt.

Die Jungen: Krawalle verzögern Stimmrechtsalter 18

Krawallsüchtige Jugend? An ihnen scheitert der zweite Anlauf fürs Stimmrechtsalter 18 (1981). Foto: Keystone

Desinteressiert, unwissend und manipulierbar: Das negative Bewertungsmuster wiederholte sich in den 1970er und 1980er Jahren bei den 18- und 19-Jährigen. Bei ihnen brauchte es drei Anläufe, bis sie das kantonale Stimmrecht erhielten, obwohl Regierung und Parlament die Ausweitung der Demokratie wie bei den Frauen von Anfang an befürworteten. Der Regierungsrat sah in der Herabsetzung des Stimmrechtsalters von 20 auf 18 Jahre einen Beitrag zur Reform der Gesellschaft. Er sorge für einen Ausgleich zur steigenden Lebenserwartung, da diese den politischen Einfluss der älteren Menschen und damit «eine konservative Grundhaltung» stärke. Die Gegner reagierten empört. Rechte und Pflichten gehörten zusammen und das Stimmrecht müsse an die (damals noch bei 20 Jahren liegende) rechtliche Mündigkeit geknüpft sein.

Zweifellos half wenig, dass es die Jahre der Jugendunruhen waren. Beim zweiten Anlauf 1981 kam es selbst am Abstimmungswochenende zu Strassenschlachten zwischen Anhängern eines Autonomen Jugendzentrums und der Polizei. Eingeschlagene Scheiben, fliegende Steine und Bierflaschen – für die politische Mitbestimmung junger Menschen war es die denkbar schlechteste Werbung. Die Abstimmung geriet zur pauschalen Strafaktion, denn zwei Jahre zuvor hatte Basel-Stadt dem Stimmrechtsalter 18 auf nationaler Ebene (anders als die Gesamtschweiz) noch zugestimmt. «Wegen einigen Scheibenwerfern werden jetzt alle bestraft», musste das überparteiliche Jugendkomitee frustriert feststellen. Erst 1988 kam das Stimmrecht 18 in Basel-Stadt knapp durch und wurde drei Jahre später auch national eingeführt. Die Einsicht überwog nun, dass Jugendliche aktiv mitgestalten sollen.

Weiter als für die Frauen und die 18- und 19-Jährigen wollte Basel-Stadt das Tor zur Mitbestimmung bisher nicht öffnen. Ein Stimmrecht für Ausländerinnen und Ausländer wurde zweimal abgeschmettert, das Stimmrechtsalter 16 einmal. Die bürgerlichen Parteien konnten defizitorientierte Abstimmungskampagnen fahren, während es die Linke nicht schaffte, selbst die eigene Basis vom gesellschaftlichen Gewinn der neuen Stimmbürger zu überzeugen. Dass die Stimmbevölkerung immer weniger mit der Wohnbevölkerung übereinstimmt – es wurde bisher in Kauf genommen. Der Anteil der Stimmberechtigten betrug auf dem Peak 1989 noch 68%, nun ritzt er die 50%-Grenze.

Das Stimmrecht als Machtfrage: Angst vor der Linken und vor Überstimmung

Bei allen Abstimmungen zur Ausweitung der Demokratie geht es um gegensätzliche Vorstellungen über die Politikfähigkeit neuer Stimmbürger. Es geht aber auch um politisches Kalkül. Schon 1920 warnte die bürgerliche Presse: «Die Folge der Annahme des Frauenstimmrechts wäre immer ein Sieg der Sozialdemokraten über die Bürgerlichen». Und auch beim Stimmrechtsalter 18 und 16 warnten die Gegner, dass die sozialistischen Kreise profitieren würden. Die Linke, von der die Bemühungen um die Ausweitung des Stimmrechts hauptsächlich ausgingen, hatte allerdings namentlich beim Frauenstimmrecht gegenteilige Befürchtungen. Tatsächlich machten sich in Basel die Frauen bei Abstimmungen dann kaum bemerkbar, und die erste Politikerinnen-Generation war mehrheitlich bürgerlich. Auch gesamtschweizerisch stimmten die Frauen bis in die 1980er Jahre eher konservativ. Mittlerweile wählen sie mehrheitlich links-grün und auch im Grossen Rat besetzen linke Amtsträgerinnen die klare Mehrheit der Frauensitze.

Foto: Nars/bz

Die Debatte zur Abstimmung vom 24. November wird vom Argument bestimmt, dass Ausländerinnen und Ausländern der Weg der Einbürgerung offenstehe. Dazu wird von den Gegnern das Bild einer politisch wenig interessierten Stimmbürgerschaft gezeichnet. Gleichzeitig werden Ängste geweckt, dass Ausländerinnen und Ausländer die Schweizer – mit Hilfe der Linken – dereinst überstimmen könnten. Bei der letzten Abstimmung im Jahr 2010 wäre es um 22’000 neue Stimmberechtigte gegangen, nun kämen rund 32’000 Stimmberechtigte hinzu – was etwa einem Viertel der Stimmbevölkerung entsprechen würde. Wie würden sie abstimmen und wählen? Die Abstimmungs- und Wahlforschung sieht für jene zwei Kantone (NE, JU) und rund 600 Gemeinden, die ein Ausländerstimmrecht bereits kennen, nur geringe politische Auswirkungen. Dies, weil Niedergelassene keinesfalls eine homogene Gruppe sind, aber auch, weil sie stark unterdurchschnittlich teilnehmen.

Ein wichtiges Argument gegen neue Stimmbürger lautet denn auch, dass mit ihnen die ohnehin bescheidene Stimmbeteiligung noch schlechter würde. Politische Teilnahme hängt allerdings von gewissen Faktoren ab wie dem Bildungsniveau, politischen Interesse und politischen Selbstbewusstsein. Diese Faktoren können gestärkt werden. In Basel lebt man nahe beieinander, es gibt eine breite, lebendige Parteienlandschaft und eine Regierung, die sich Integration aktiv auf die Fahne schreibt. Es wären nicht die schlechtesten Voraussetzungen, um neue Stimmberechtigte einzubinden.

Die direkte Demokratie hat der Ausweitung der Stimmberechtigten schon manches Bein gestellt. Sie ist eben, was sie ist: ein lernendes System, in dem gesellschaftlicher Wandel und Mitbestimmung immer wieder neu ausgehandelt werden müssen.

Bisherige Abstimmungen zu mehr Mitbestimmung in Basel-Stadt:

AbstimmungenJa-AnteilStimmbeteiligung
Frauenstimmrecht
1920
1927
1946
1954
1966
 
35.0%
29.2%
37.1%
45.1%
60.0%

65.8%
59.4%
59.4%
62.1%
34.5%
Stimmrecht ab 18
1973
1981
1988
 
27.7%
48.7%
52.2%

25.2%
23.4%
42.1%
Stimmrecht ab 16
2009
2024, nur Riehen

28.0%
30.0%

56.5%
70.0%
Stimmrecht für MigrantInnen*
1994
2010
Initiative
Gegenvorschlag

26.2%

19.1%
39.0%

51.5%

49.4%
49.4%

* Stimmrecht für MigrantInnen 1994: Seit 8 Jahren in der Schweiz, davon 3 in BS, ohne passives Wahlrecht. 2010: Initiative: Niederlassungsbewilligung und 5 Jahre in BS. GV: Niederlassungsbewilligung, 10 Jahre in der Schweiz, davon 5 in BS, ohne passives Wahlrecht.

Eva Gschwind